Textor ist bekannt als ein Teil der Kinderzimmer Productions. Aber er war auch immer mehr als das.
Vor allem musikalisch hat er stets weiter gedacht. Das beweist er jetzt mit „Schwarz Gold Blau“, einer ungewöhnlichen Platte von ungewöhnlichen Musikern über einen ungewöhnlichen Protagonisten. Sie hat mit HipHop nicht mehr viel zu tun. Was Textor aber aus seiner Zeit als Rapper mitgebracht hat, ist dieses ungeheure Talent für Sprache und die Gabe, durch Geschichten eine Welt entstehen zu lassen.
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Ein Reim muss sich nicht nur reimen, er muss einen Klang haben. Der Klang der Worte und deren Inhalt müssen sich in der Musik widerspiegeln. Eine Geschichte erzählt sich nicht nur über den Inhalt, sondern auch über die Form. Und diese Geschichte ist eine, die uns allen wohlbekannt ist, es aber auch wert ist, neu erzählt zu werden.
Da steht der junge Mann in der Großraumdiskothek in der Nähe einer süddeutschen Kleinstadt. Nachdem er den Samstagnachmittag mit Kiffen, Playstation spielen und Vorglühen verbracht hat, lässt er den Samstagabend vergehen, indem er weiter Alkoholabusus betreibt, mit seinen Kumpeln dummes Zeug redet und auf die Ärsche der Frauen, die sich vor ihm bewegen, starrt. Er wirkt wie ein Klischee. Genauso, wie die Musik, die eingängig daherkommt. Wenn da nur nicht dieser Klang wäre: Dieses tiefe Grummeln eines Kontrabasses, das nach anderthalb Minuten einsetzt, will nicht so recht passen. Es deutet schon das drohende Gewitter an, das über unseren jungen Helden hereinbrechen wird.
Textor erzählt, nein, singt und rappt auf „Schwarz Gold Blau“ in elf Stücken liebevoll die lückenhafte Biografie des jungen Manns aus dem Opener „Lift Off“. Dazu spielt Rüdiger Kurz’ Ensemble Akkordsport auf: zwei Geigen, ein Cello, einen Kontrabass, ein Klavier, eine Gitarre. Kein Schlagzeug, denn den rhythmischen Zug kann man auch mit anderen Mitteln erreichen, durch die alte, schlagzeuglose Rhythmsection aus den 40ern. Hier und da wird ein elektrischer Bass gesetzt, ersetzt ein Rhodes das Piano, ergänzen ein paar elektronische Sampeleien den Klang. Es ist ein Sound, den man unbedingt auch live spielen können soll, der auf eine Bühne gehört. Was Instrumente und Räume leisten können hört man sorgfältig produziert. Und wofür das alles? Um nichts weniger als ein Leben und eine Reise und ein Land zu erschaffen.
Genauer gesagt Westdeutschland, mit dem Gefühl, dass Helmut Kohl einem auf der Brust sitzt und Dieter Thomas Heck dieses bizarre Erlebnis moderiert, aber mit Trio und Kraftwerk im Ohr, die Kompositionen von Werner Heymann und Mischa Spoliansky spielen, während man in seinem Poesiealbum die Einträge von Marlene Dietrich und Hildegard Knef anstaunt. So laufen auch die musikalischen und textlichen Zitate durch die Lieder. Alles, was einem lieb oder verhasst oder beides ist erkennt man im korrekten Moment wieder: In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine, Was hat Dich bloß so ruiniert, Helter Skelter, Kreuzberger Nächte, Der wilde wilde Westen, der gleich hinter Hamburg anfängt, und zwar genau Im Wagen vor mir. Rata rata ratatatata.
Denn hier sind wir auch ständig auf der Reise – A7 und B19 als Bezugsstrecken durch WestD – von Berlin über Hamburg nach Neu Ulm. Der Weg weg beschreibt auch den Weg dorthin. Und dann lässt „Neu Ulm“, diese vierminütige rhythmisierte, gereimte Aufzählung all der deutschen Kleinstädte, in denen man gerade nicht ist, Autobahnen vor dem geistigen Auge entstehen und erinnert an Orte, die es nur in den Verkehrsnachrichten gibt – die Walldorfs, Wieslochs, Rauenbergs des Landes, in denen noch nie ein Mensch gewesen ist.
Außer eben unser Freund aus der Großraumdiskothek, der ja nun doch irgendwo sein Leben bestreiten muss. Wir treffen ihn (oder jemand, der er sein könnte) immer wieder in verschiedenen Zuständen. Wir rauchen mit ihm sonntagnachmittags die ersten Kippen auf dem Parkplatz „Vorm Schleckermarkt“ (dem damit kurz nach seinem Niedergang endlich die angemessen traurige Würdigung zuteil wird) oder stehen in dieser schrecklichen Disko und wissen nicht wohin vor lauter peinlicher Berührtheit. Mal spielt die Musik voller Streicher ganz exakt am Kitsch vorbei und erzeugt dadurch diese ironische Brechung. Dann wieder gibt es zurückgenommene Arrangements, die sich ganz dem melancholischen Text unterordnen, oder fröhlich hüpfende Melodien, die positive Empfindungen erzwingen. Denn letztlich, so viel sei schon verraten, geht ja alles gut aus.
Die elf Stücke von „Schwarz Gold Blau“ sind irgendwo zwischen dem deutschen Lied und dem amerikanischen Song angesiedelt. Das erklärt auch die Instrumentierung: das Tanzorchester muss anders als normal sein, weil es normal nicht gibt – schon gar nicht im Leben des jungen Mannes. Textor beherrscht die Kunst, Geschichten zu erzählen, die wir alle kennen. Er macht liebevoll das sichtbar, was wir eigentlich alle hinter dem Klischee entdecken könnten, wenn wir nur einmal hinsehen würden. Darum erschließt sich „Schwarz Gold Blau“ nicht nur über die Texte und die Musik, sondern vor allem über das, was beim Zuhörer passiert. In diesen elf Liedersongs entsteht ein Kaleidophon, das akustische Gegenstück zum Kaleidoskop, in dem statt bunte Glasscherben die Musik, Melodie, Rhythmus und Text sich verschiebend blitzen, die sich zu einem fragmentarischen, gebrochenem Ganzen zusammensetzen. Jemand singt „Ich“ für Dich, nennt einen Namen, und es fühlt sich wahr und gut und schön an.